Vorislamische Religionen und Kulturen
In vorislamischer Zeit waren die Völker des heutigen Afghanistans Anhänger verschiedener Religionen, darunter Zarathustrismus, Buddhismus, Brahmanismus sowie der Mithras-Kult.
Diese Glaubensrichtungen waren eng mit hoch entwickelten Kulturen verbunden, die sich spezifisch ausprägten. Schon damals waren Landwirtschaft und Bewässerungssysteme weit entwickelt, und auch der Handel mit Indien und China florierte.
Im Vergleich dazu lebten die Araber als Beduinen in weniger entwickelten Verhältnissen. Aberglaube, Hexerei und Opferpraktiken waren dort verbreitet. Der Islam bedeutete für die arabischen Gesellschaften daher eine zivilisierende Reformbewegung. In Afghanistan jedoch führten die Eroberungen primär zu einer Zerstörung bestehender Kulturgüter (Baraki 2002).
Islamisierung Afghanistans
Die Ebenen zwischen Herat und Sistan (heute Provinz Nimrus) wurden bereits Mitte des 7. Jahrhunderts erobert; ihre Bevölkerung wurde bald islamisiert.
In Kabul setzte sich der Islam erst im 10. Jahrhundert durch.
Das Gebirgsland von Ghur blieb während der arabischen Expansionen unberührt; die Islamisierung erfolgte hier erst im 11. Jahrhundert.
Die Bevölkerung östlich von Kabul wurde erst im 16. Jahrhundert muslimisch,
Nuristan schließlich sogar erst Ende des 19. Jahrhunderts (Chiari 2020).
Der gelebte Islam in Afghanistan
Wie in anderen Ländern zeigt sich auch in Afghanistan eine heterogene Vielfalt islamischer Prägungen.
Diese „Kultur der Ambiguität“ war bereits vor den jüngeren Konflikten Teil des Alltags.
Auch nichtmuslimische Minderheiten wie Sikhs, Hindus und Juden lebten – trotz Diskriminierungen – in Koexistenz mit sunnitischen und schiitischen Muslimen.
Viele Gelehrte betrachteten Unterschiede in Auslegung und Praxis nicht als Problem, sondern als Ausdruck von Gottes Gnade (ekhtelaf-o ommati rahma).
In der Blütezeit islamischer Kultur (750–1250) – mit Zentren wie Bagdad – zeigte sich diese Vielfalt in Kunst, Wissenschaft und Forschung.
Schon in der Frühzeit existierten verschiedene Lesarten von Koran und Scharia nebeneinander, ohne dass ihre göttliche Herkunft infrage gestellt wurde.
Gelehrte verstanden ihre Rechtsauslegung (Ijtihad) stets als individuelle Interpretation, nicht als „einzig wahren Islam“.
Damit war in Afghanistan eine Pluralität von Meinungen und Praktiken über Jahrhunderte respektiert (Mielke 2024).
Mystischer Islam und Sufi-Orden
Bis zum sowjetischen Krieg hielten die mystischen Strömungen Distanz zur Politik und forderten Toleranz. Erst im Bürgerkrieg suchten auch sie politischen Einfluss.
Bedeutende Bruderschaften
Naqshbandiyya
Gegründet von Bahaoddin an-Naqshbandi (gest. 1389), verbreitete sich zunächst in Zentralasien. In Afghanistan vor allem unter Tadschiken urbaner Zentren und einigen paschtunischen Stämmen verbreitet.
Qadiriyya
Gegründet von Abd al-Qadir Gilani (gest. 1166, Bagdad). Im frühen 20. Jahrhundert in Afghanistan etabliert.
Chishtiyya
Gegründet von Moinoddin Muhammad Chishti (gest. 1236). Zentrum in Herat, Einfluss weit über Afghanistan hinaus bis nach Indien.
Rolle im Alltag
Die Olama als religiöse Autoritäten pflegten oft Beziehungen zu mystischen Orden. Viele verhielten sich offen gegenüber Musik und Kontakten mit anderen Religionen.
Auch Dichter – besonders solche mit mystischer Ausrichtung – hatten hohen Stellenwert: Ihre Gedichte galten als Auslegung der koranischen Botschaft.
Mystische Dichtung und ihre Wirkung
Hafez (1320–1389): Forderte Großmut gegenüber Freunden und Toleranz gegenüber Feinden.
Saadi (1190–1283): Beschrieb die Menschheit als einen gemeinsamen Körper: „Die Kinder Adams sind aus einem Stoff gemacht …“
Maulana Jalaloddin Balkhi (Rumi, 1207–1273): Sah Liebe als Hauptkraft des Universums und überwand religiöse Grenzen.
Abdolqader Bidel Dehlavi (1645–1721)
Bedeutender Vertreter mystischer Dichtung, hoch verehrt in Afghanistan.
Mitglied des Qadiriyya-Ordens, wirkte im Mogulreich.
Seine Werke wurden wie Koranverse rezitiert, in Lesungen und Diskussionen vertieft.
Ostad Muhammad Hosain Sarahang (1923–1982) machte Bidels Gedanken mit seiner Musik populär.
Seine Philosophie („Vahdat al-vojud“ – Einheit der Existenz) zeigt die Ambiguität des Seins.
Bidel wird bis heute in Afghanistan von einer großen Leserschaft verehrt (Poya 2012).
Islamischer Fundamentalismus und die Rolle der Olama
Mit Afghanistan werden heute oft islamischer Fundamentalismus, rückwärtsgewandte Religiosität und mittelalterliche Denk- und Lebensweisen assoziiert (Poya 2012).
Die Rolle der Olama in der politischen Geschichte Afghanistans
In der politischen Geschichte Afghanistans spielten religiöse Akteure, insbesondere die offiziellen Träger des Islam – die sogenannten Olama –, eine weitreichende Rolle.
Sie waren zentrale Faktoren in der Meinungsbildung und politischen Orientierung der Bevölkerung. Politische Eliten bemühten sich daher stets, die Zustimmung der Olama für ihre Regierungsentscheidungen zu gewinnen.
Mitunter wurden die Olama jedoch instrumentalisiert, auch für Politiken, die mit islamischen Grundsätzen im Widerspruch standen.
Beispiel: Amir Abdurrahman Khan (1881–1901), bekannt als „Eiserner Emir“, setzte zur Verfolgung religiöser und ethnischer Minderheiten auf Fatwas der Olama. Einige unterstützten sogar die Enteignung religiöser Stiftungen.
Demgegenüber fehlte Amanullah Khan (1919–1929) die Rückendeckung der Olama. Seine liberalen Reformvorhaben – darunter das Verbot der Sklaverei, Religions- und Meinungsfreiheit sowie die Schulpflicht für Mädchen – wurden von einflussreichen Gelehrten wie Fazl Omar Mojaddadi (Hazrat-e Shur Bazar) abgelehnt und als unislamisch bezeichnet.
Der daraufhin ausgelöste Volksaufstand führte schließlich zum Sturz Amanullahs.
Obgleich die Olama somit erheblichen Einfluss ausübten, wurden sie formal eher als religiöse Instanz und nicht als eigenständige politische Macht betrachtet (Poya 2012).
Die Manifestierung des islamischen Fundamentalismus in der Kriegszeit
Krieg wurde in Afghanistan vielfach als Mittel zur Durchsetzung religiöser Interessen genutzt. Religion diente zugleich als Legitimationsgrundlage für Gewalt und führte zur Manifestierung fundamentalistischer Strömungen.
Bereits im „Jahrzehnt der Verfassung“ (1963–1973) entstanden in Kabul erste islamistische Gruppierungen, um gegen linksorientierte Studentenbewegungen anzutreten.
„Jungmuslime“ (javanan-e mosalman)
„Islamische Gemeinschaft“ (jameyyat-e islami)
Ihre Führungskader – darunter Gholam Muhammad Neyazi (gest. 1978), Borhanoddin Rabbani (1940–2011), Golboddin Hekmatyar (geb. 1947) und Ahmad Shah Massud (1951–2001) – waren stark durch die Ideologie der Muslimbruderschaft geprägt, vermittelt über die Al-Azhar-Universität in Kairo.
Später führten diese Akteure nicht nur den Widerstand gegen die Sowjetunion, sondern auch blutige Kämpfe gegeneinander, die sich nach dem sowjetischen Rückzug weiter verschärften.
Auch mystische Bruderschaften wie die Naqshbandiyya (Sebghatollah Mojaddadi), die Qadiriyya (Pir Sayyed Ahmad Gailani) und die Chishtiyya in Herat nahmen aktiv am Widerstand teil – und verstrickten sich ebenfalls in die „schmutzigen Brüderkriege“ der Mudschahedin.
Im Verlauf des Konflikts wurde die Logik des Krieges zum dominanten Handlungsprinzip, das auch religiöse Akteure erfasste.
An die Stelle mystisch inspirierter Dichtung von Maulana (Rumi) oder Bidel trat zunehmend die Ideologie fundamentalistischer Vordenker wie Sayyid Qutb (1906–1966) und Abu Ala Maududi (1903–1979).
Die finanzielle und militärische Unterstützung externer Akteure über Jahrzehnte hinweg trug entscheidend dazu bei, dass fundamentalistische Islaminterpretationen in Afghanistan an Einfluss gewannen und schließlich zur dominanten Strömung wurden (Mielke 2024).