Chapter 2

The background to the war

Die geografischen Kenntnisse sind eine grundlegende Voraussetzung für das Verständnis der historischen, gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und politischen Entwicklung Afghanistans.

2.1 Die Geografie Afghanistans

2.2 Die geografische und geopolitische Lage

2.3 Die Interessen der Nachbarstaaten

2.4 Historischer Rückblick

2.5 Geschichte der Religionen

2.6 Die Rolle von Frauen in der afghanischen Gesellschaft

Kapitel 2.1
Die Geographie Afghanistans - Aufklärungsforum Afghanistan

Die Geografie Afghanistans

Geografisch lässt sich Afghanistan weder eindeutig Vorderasien, noch Zentralasien oder dem indischen Subkontinent zuordnen.

Das Land liegt vielmehr an einer geostrategischen Scharnierstelle, an der Impulse aus den drei Kulturräumen Iran, Indien und Zentralasien in kultureller, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht zusammentreffen (Wilde 2018).

Afghanistan ist ein Gebirgsland ohne Zugang zum Meer und weist eine Fläche auf, die etwa doppelt so groß ist wie die der Bundesrepublik Deutschland.

Die Natur des Landes kann einerseits als faszinierend, andererseits aber auch als abweisend wahrgenommen werden: Die Gebirge und Hochgebirge sind zerklüftet, während Wüsten und Steppen kaum natürlichen Lebensraum bieten.

Über 90 % der Fläche liegen mehr als 600 Meter über dem Meeresspiegel, sodass lediglich rund ein Zehntel landwirtschaftlich nutzbar ist (Hermann 2022).

In der Vergangenheit fungierte Zentralasien als internationale Drehscheibe.

Waren aus allen Himmelsrichtungen wurden hier verschoben, Grenzen überwunden und die Menschheit auf globaler Ebene vernetzt.

Der renommierte Gelehrte Avicenna wirkte als Vermittler zwischen den Denkschulen der griechischen Antike und des Islam.

Durch ihn erfolgte eine erneute Rezeption des Aristoteles in Europa.

Obgleich historische Gemeinsamkeiten bestehen, werden Afghanistan sowie die chinesische Westprovinz Xinjiang im politischen Verständnis der Region Zentralasien nicht berücksichtigt (Krumm 2007).

Kapitel 2.2
Die geografische und geopolitische Lage in Afghanistan - Aufklärungsforum Afghanistan

Die geographische und geopolitische Lage

Die Geschichte Afghanistans ist stark geprägt durch seine geopolitische Lage im Schnittpunkt großer Mächte.

Auch in der Gegenwart ist das Land von einer Vielzahl an Staaten umgeben, darunter Pakistan, Iran, China und Russland sowie die postsowjetischen Staaten Zentralasiens, Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan (Hermann 2022).

Afghanistan befindet sich in einer geopolitisch bedeutsamen Lage, an der sich die machtpolitischen Einflusssphären verschiedener Staaten überschneiden – mit einer Gesamtbevölkerung von 4,65 Milliarden Menschen, was rund 59,3 Prozent der Weltbevölkerung entspricht.

Auch in den kommenden Jahren wird Afghanistan den Beschränkungen seiner geografischen Lage unterliegen und sich weiterhin im Spannungsfeld der regionalen Machtkonstellationen befinden (Julian Voje 2014).

Kapitel 2.3
Die Interessen der Nachbaarstaaten - Aufklärungsforum Afghanistan

Die Interessen der Nachbarstaaten

Mit dem Beginn des "War on terror" am 11. September 2001 und dem damit einhergehenden Wegfall der Taliban erfuhr die regionale Raum-Mächte-Konstellation eine signifikante Veränderung.
In der Folge strebten andere Staaten danach, in Afghanistan Fuß zu fassen, was das Land am Hindukusch zusätzlich destabilisierte (Julian Voje 2014).

Pakistan, die „Durand Line“ und der Paschtunistan-Konflikt

Die Durand-Linie, eine 1893 im Zuge der englischen Kolonialherrschaft festgelegte Demarkationslinie, stellt die erste und bis heute wirksame Grenzziehung zwischen Afghanistan und dem heutigen Pakistan dar.
Sie berührt unmittelbar die Grundfesten von Nationalstaaten in einer Region, die zuvor gänzlich andere ethnische, historische und administrative Entwicklungen durchlaufen hatte.
Für die Stammesbevölkerung hatte diese Grenze bislang nur eine geringe Relevanz und wurde von afghanischer Seite nie ratifiziert. Vielmehr werden die Stammesgebiete als kaum kontrollierbare Rückzugs- und Transiträume wahrgenommen (Clemens 2004).

Bereits seit den 1980er Jahren verfolgte Pakistan eigene Ziele in Afghanistan.
Die treibende Kraft war dabei stets der Wunsch nach einer „strategischen Tiefe“, um im Falle eines Krieges mit Indien über Rückzugsräume zu verfügen.
Im Kontext des „War on Terror“ erteilten die USA dem damaligen pakistanischen Machthaber Pervez Muscharraf eine Art Generalvollmacht für die Gestaltung der pakistanischen Politik in Afghanistan (Julian Voje 2014).

Postsowjetische Staaten, Iran, Russland und China

Nach der erneuten Machtergreifung der Taliban im August 2021 ist eine Intensivierung der Wirtschaftskontakte zu beobachten.
Insbesondere die Beziehungen zu Afghanistans Nachbarstaaten in Zentralasien sowie zu Iran, Russland und China haben sich ausgeweitet.

Ein stabileres Afghanistan wird als Absatzmarkt und Transitland für profitable Infrastrukturprojekte betrachtet, darunter Erdöl-, Erdgas- und Stromtrassen sowie Zugverbindungen.
Vor allem die zentralasiatischen Staaten erhoffen sich dadurch Zugang zu den Häfen am Indischen Ozean.

Geplante und laufende Projekte umfassen:

Bahnstrecken zwischen China und Peschawar (Pakistan) über Kirgistan, Usbekistan (Termez) und Afghanistan (Masar-i-Scharif und Kabul).

Pläne zur engeren verkehrstechnischen Anbindung Tadschikistans über Afghanistan an den Iran.

Die Realisierung einer Zugverbindung zwischen Iran und Herat, die bereits weit vorangeschritten ist.

Energieexporte aus Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan auf den pakistanischen und indischen Markt.

Das von der Weltbank 2023 erneut unterstützte CASA-1000 Energieprojekt (Megawatt-Verbindung zwischen Zentral- und Südasien).

Die geplante Fertigstellung der Erdgasleitung TAPI (Turkmenistan–Afghanistan–Pakistan–Indien), mit der sich Turkmenistan den Zugang zu neuen Märkten erschließen könnte (Mielke 2024).

Kapitel 2.4
Historischer Rückblick - Aufklärungsforum Afghanistan

Historischer Rückblick

Kapitel 2.4.1

Das heutige afghanische Staatsgebiet

Die Bezeichnung „Afghanistan“ für das heutige Staatsgebiet ist historisch noch relativ jung.
Afghanische Historiker bemühen sich, die Ursprünge ihres Landes bereits in der frühen Antike zu verorten. Dabei werden das antike „Ariana“, das mittelalterliche „Khorasan“ und das neuzeitliche „Afghanistan“ als Glieder einer ununterbrochenen Kette dargestellt, die über Jahrhunderte hinweg miteinander verbunden und zu einer geschichtlichen Einheit verschmolzen seien.

Die afghanische Geschichtsschreibung datiert die Entstehung des modernen Nationalstaats auf das Jahr 1747, als Ahmad Schah Durrani die Durrani-Dynastie gründete, die bis zum Sturz des letzten Königs, Sahir Schah, im Jahr 1973 Bestand hatte.
Diese Sichtweise gibt die Realität jedoch nur bedingt wieder: Das Reich Ahmad Schah Durranis trug nicht den Namen Afghanistan und verfügte auch nicht über Institutionen moderner Staatlichkeit.

Als ein plausibleres Datum für den Beginn der afghanischen Nationalgeschichte gilt vielmehr die Regierungszeit von Abdurrachman (1880–1901).
In dieser Epoche versahen die britischen und russischen Kolonialmächte das halbautonome Protektorat Afghanistan mit festen politischen und territorialen Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen erhielt Emir Abdurrachman die Möglichkeit, staatliche Strukturen aufzubauen.

Der Begriff „Afghanistan“ („Land der Afghanen“) wurde ursprünglich von den Persern verwendet, um die südlich und südöstlich des Hindukusch sowie im Nordwesten des heutigen Pakistans gelegenen Herrschafts- und Stammesgebiete der Paschtunen zu bezeichnen. Für das politische Zentrum rund um die alte Handelsstadt Kabul war hingegen die Bezeichnung „Königreich Kabul“ gebräuchlich.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts übernahmen die Briten den Begriff in seiner persischen Variante.
Im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte setzte sich „Afghanistan“ zunehmend als offizielle Landesbezeichnung durch.
Die so bezeichnete Region lag zu Beginn des 19. Jahrhunderts jedoch weiter im Norden und Westen als das heutige Staatsgebiet, da die britisch-indischen Truppen über die paschtunischen Stammesgebiete hinaus vorgedrungen waren. Obgleich sie zeitweise zusätzliche Territorien besetzen konnten, wurden sie letztlich zurückgeschlagen.

Infolge dieser gescheiterten Expansion etablierte sich eine Pufferzone ohne übergreifende Herrschaft zwischen Russland, Britisch-Indien und Persien.
Die darin zusammengefassten Regionen wurden fortan unter dem Namen „Afghanistan“ geführt (Chiari 2020).

Kapitel 2.4.2

Die “goldenen” Jahre Afghanistans

Die Datierung des Beginns und Endes der sogenannten „Goldenen Zeit“ Afghanistans variiert in der wissenschaftlichen Literatur.
Einige Historiker beziehen den gesamten Herrschaftszeitraum von Zahir Schah (1933–1973) ein, während andere das Ende erst auf 1978 datieren oder einen enger gefassten Zeitraum ab Mitte der 1950er Jahre bis 1973 ansetzen.

Besonders die 1960er Jahre werden häufig als Höhepunkt dieser „Goldenen Ära“ betrachtet. In der Forschung gilt sie als Symbol für Stabilität, Modernität und Prosperität Afghanistans.
Diese Einschätzung erweist sich jedoch als nur bedingt zutreffend: Die Goldenen Jahre basierten auf einer fragilen Grundlage.

Die großzügigen Entwicklungshilfen der USA und der Sowjetunion ermöglichten zwar Wirtschaftswachstum und förderten liberale Reformen. Doch als diese Hilfsgelder versiegten und interne Konflikte zunahmen, brachen die jungen demokratischen Institutionen schnell wieder zusammen.

Die „Goldenen Jahre“ können daher auch als Analogie verstanden werden: Selbst in seiner stabilsten Phase gelang es Afghanistan nicht, nachhaltige Strukturen aufzubauen, die den Standards eines modernen demokratischen Staates entsprochen hätten (Stojek 2023).

Kapitel 2.4.3

Die Rolle von Ethnien in der innerafghanischen Konfliktebene

Die geografischen und topologischen Gegebenheiten Afghanistans sind von einer beeindruckenden Vielfalt geprägt, die sich auch in der Bevölkerung widerspiegelt.
Als Schnittstelle zwischen Westasien, Zentralasien und dem indischen Subkontinent weist das Land bis heute eine bemerkenswerte kulturelle Vielfalt an Sprachen, Konfessionen und Volksgruppen auf.

Eine präzise Abgrenzung der einzelnen Völkerschaften ist jedoch kaum möglich.
Ein beträchtlicher Teil der afghanischen Bevölkerung kennt nicht einmal den Namen der Ethnie, zu der er sich zählt. Daraus folgt, dass es weder eine einheitliche afghanische Identität gibt, noch eine klare Zahl oder räumliche Zuordnung der Ethnien.

Die afghanische Gesellschaft ist durch eine Vielzahl an Stammesstrukturen geprägt.
Diese Strukturen sind in ihrer Ausgestaltung beinahe biblisch anmutend: Gemeinschaften definieren sich in der Regel über einen gemeinsamen Ahnherrn, wobei angenommen wird, dass alle Angehörigen eines Stammes miteinander verwandt seien.
Ein solcher Stamm gliedert sich in Unterstämme, die wiederum in kleinere Substämme und Clans unterteilt sind.

Während der Phase des westlichen Engagements (2001–2021) gelang es keiner afghanischen Regierung, eine nationale Identität zu festigen oder die ethnischen Unterschiede abzuschwächen.
Stattdessen dominierte eine Politik, die Angehörige des eigenen Stammes bevorzugte und Vetternwirtschaft betrieb. Dieser Zustand hat sich mit der erneuten Machtergreifung der Taliban fortgesetzt (Brenner 2024; Hermann 2022).

Kapitel 2.5
Geschichte der Religionen - Aufklärungsforum Afghanistan

Geschichte der Religionen

Kapitel 2.5.1

Religionen und Islamisierung

Vorislamische Religionen und Kulturen

In vorislamischer Zeit waren die Völker des heutigen Afghanistans Anhänger verschiedener Religionen, darunter Zarathustrismus, Buddhismus, Brahmanismus sowie der Mithras-Kult.
Diese Glaubensrichtungen waren eng mit hoch entwickelten Kulturen verbunden, die sich spezifisch ausprägten. Schon damals waren Landwirtschaft und Bewässerungssysteme weit entwickelt, und auch der Handel mit Indien und China florierte.

Im Vergleich dazu lebten die Araber als Beduinen in weniger entwickelten Verhältnissen. Aberglaube, Hexerei und Opferpraktiken waren dort verbreitet. Der Islam bedeutete für die arabischen Gesellschaften daher eine zivilisierende Reformbewegung. In Afghanistan jedoch führten die Eroberungen primär zu einer Zerstörung bestehender Kulturgüter (Baraki 2002).

Islamisierung Afghanistans

Die Ebenen zwischen Herat und Sistan (heute Provinz Nimrus) wurden bereits Mitte des 7. Jahrhunderts erobert; ihre Bevölkerung wurde bald islamisiert.

In Kabul setzte sich der Islam erst im 10. Jahrhundert durch.

Das Gebirgsland von Ghur blieb während der arabischen Expansionen unberührt; die Islamisierung erfolgte hier erst im 11. Jahrhundert.

Die Bevölkerung östlich von Kabul wurde erst im 16. Jahrhundert muslimisch,

Nuristan schließlich sogar erst Ende des 19. Jahrhunderts (Chiari 2020).

Der gelebte Islam in Afghanistan

Wie in anderen Ländern zeigt sich auch in Afghanistan eine heterogene Vielfalt islamischer Prägungen.
Diese „Kultur der Ambiguität“ war bereits vor den jüngeren Konflikten Teil des Alltags.

Auch nichtmuslimische Minderheiten wie Sikhs, Hindus und Juden lebten – trotz Diskriminierungen – in Koexistenz mit sunnitischen und schiitischen Muslimen.

Viele Gelehrte betrachteten Unterschiede in Auslegung und Praxis nicht als Problem, sondern als Ausdruck von Gottes Gnade (ekhtelaf-o ommati rahma).

In der Blütezeit islamischer Kultur (750–1250) – mit Zentren wie Bagdad – zeigte sich diese Vielfalt in Kunst, Wissenschaft und Forschung.

Schon in der Frühzeit existierten verschiedene Lesarten von Koran und Scharia nebeneinander, ohne dass ihre göttliche Herkunft infrage gestellt wurde.

Gelehrte verstanden ihre Rechtsauslegung (Ijtihad) stets als individuelle Interpretation, nicht als „einzig wahren Islam“.

Damit war in Afghanistan eine Pluralität von Meinungen und Praktiken über Jahrhunderte respektiert (Mielke 2024).

Mystischer Islam und Sufi-Orden

Bis zum sowjetischen Krieg hielten die mystischen Strömungen Distanz zur Politik und forderten Toleranz. Erst im Bürgerkrieg suchten auch sie politischen Einfluss.

Bedeutende Bruderschaften

Naqshbandiyya
Gegründet von Bahaoddin an-Naqshbandi (gest. 1389), verbreitete sich zunächst in Zentralasien. In Afghanistan vor allem unter Tadschiken urbaner Zentren und einigen paschtunischen Stämmen verbreitet.

Qadiriyya
Gegründet von Abd al-Qadir Gilani (gest. 1166, Bagdad). Im frühen 20. Jahrhundert in Afghanistan etabliert.

Chishtiyya
Gegründet von Moinoddin Muhammad Chishti (gest. 1236). Zentrum in Herat, Einfluss weit über Afghanistan hinaus bis nach Indien.

Rolle im Alltag

Die Olama als religiöse Autoritäten pflegten oft Beziehungen zu mystischen Orden. Viele verhielten sich offen gegenüber Musik und Kontakten mit anderen Religionen.
Auch Dichter – besonders solche mit mystischer Ausrichtung – hatten hohen Stellenwert: Ihre Gedichte galten als Auslegung der koranischen Botschaft.

Mystische Dichtung und ihre Wirkung

Hafez (1320–1389): Forderte Großmut gegenüber Freunden und Toleranz gegenüber Feinden.

Saadi (1190–1283): Beschrieb die Menschheit als einen gemeinsamen Körper: „Die Kinder Adams sind aus einem Stoff gemacht …“

Maulana Jalaloddin Balkhi (Rumi, 1207–1273): Sah Liebe als Hauptkraft des Universums und überwand religiöse Grenzen.

Abdolqader Bidel Dehlavi (1645–1721)

Bedeutender Vertreter mystischer Dichtung, hoch verehrt in Afghanistan.

Mitglied des Qadiriyya-Ordens, wirkte im Mogulreich.

Seine Werke wurden wie Koranverse rezitiert, in Lesungen und Diskussionen vertieft.

Ostad Muhammad Hosain Sarahang (1923–1982) machte Bidels Gedanken mit seiner Musik populär.

Seine Philosophie („Vahdat al-vojud“ – Einheit der Existenz) zeigt die Ambiguität des Seins.

Bidel wird bis heute in Afghanistan von einer großen Leserschaft verehrt (Poya 2012).

Kapitel 2.5.2

Der Weg zum islamischen Fundamentalismus

Islamischer Fundamentalismus und die Rolle der Olama

Mit Afghanistan werden heute oft islamischer Fundamentalismus, rückwärtsgewandte Religiosität und mittelalterliche Denk- und Lebensweisen assoziiert (Poya 2012).

Die Rolle der Olama in der politischen Geschichte Afghanistans

In der politischen Geschichte Afghanistans spielten religiöse Akteure, insbesondere die offiziellen Träger des Islam – die sogenannten Olama –, eine weitreichende Rolle.
Sie waren zentrale Faktoren in der Meinungsbildung und politischen Orientierung der Bevölkerung. Politische Eliten bemühten sich daher stets, die Zustimmung der Olama für ihre Regierungsentscheidungen zu gewinnen.

Mitunter wurden die Olama jedoch instrumentalisiert, auch für Politiken, die mit islamischen Grundsätzen im Widerspruch standen.

Beispiel: Amir Abdurrahman Khan (1881–1901), bekannt als „Eiserner Emir“, setzte zur Verfolgung religiöser und ethnischer Minderheiten auf Fatwas der Olama. Einige unterstützten sogar die Enteignung religiöser Stiftungen.

Demgegenüber fehlte Amanullah Khan (1919–1929) die Rückendeckung der Olama. Seine liberalen Reformvorhaben – darunter das Verbot der Sklaverei, Religions- und Meinungsfreiheit sowie die Schulpflicht für Mädchen – wurden von einflussreichen Gelehrten wie Fazl Omar Mojaddadi (Hazrat-e Shur Bazar) abgelehnt und als unislamisch bezeichnet.

Der daraufhin ausgelöste Volksaufstand führte schließlich zum Sturz Amanullahs.

Obgleich die Olama somit erheblichen Einfluss ausübten, wurden sie formal eher als religiöse Instanz und nicht als eigenständige politische Macht betrachtet (Poya 2012).

Die Manifestierung des islamischen Fundamentalismus in der Kriegszeit

Krieg wurde in Afghanistan vielfach als Mittel zur Durchsetzung religiöser Interessen genutzt. Religion diente zugleich als Legitimationsgrundlage für Gewalt und führte zur Manifestierung fundamentalistischer Strömungen.

Bereits im „Jahrzehnt der Verfassung“ (1963–1973) entstanden in Kabul erste islamistische Gruppierungen, um gegen linksorientierte Studentenbewegungen anzutreten.

„Jungmuslime“ (javanan-e mosalman)

„Islamische Gemeinschaft“ (jameyyat-e islami)

Ihre Führungskader – darunter Gholam Muhammad Neyazi (gest. 1978), Borhanoddin Rabbani (1940–2011), Golboddin Hekmatyar (geb. 1947) und Ahmad Shah Massud (1951–2001) – waren stark durch die Ideologie der Muslimbruderschaft geprägt, vermittelt über die Al-Azhar-Universität in Kairo.

Später führten diese Akteure nicht nur den Widerstand gegen die Sowjetunion, sondern auch blutige Kämpfe gegeneinander, die sich nach dem sowjetischen Rückzug weiter verschärften.

Auch mystische Bruderschaften wie die Naqshbandiyya (Sebghatollah Mojaddadi), die Qadiriyya (Pir Sayyed Ahmad Gailani) und die Chishtiyya in Herat nahmen aktiv am Widerstand teil – und verstrickten sich ebenfalls in die „schmutzigen Brüderkriege“ der Mudschahedin.

Im Verlauf des Konflikts wurde die Logik des Krieges zum dominanten Handlungsprinzip, das auch religiöse Akteure erfasste.
An die Stelle mystisch inspirierter Dichtung von Maulana (Rumi) oder Bidel trat zunehmend die Ideologie fundamentalistischer Vordenker wie Sayyid Qutb (1906–1966) und Abu Ala Maududi (1903–1979).

Die finanzielle und militärische Unterstützung externer Akteure über Jahrzehnte hinweg trug entscheidend dazu bei, dass fundamentalistische Islaminterpretationen in Afghanistan an Einfluss gewannen und schließlich zur dominanten Strömung wurden (Mielke 2024).

Kapitel 2.6
Die Rolle von Frauen - Aufklärungsforum Afghanistan

Die Rolle von Frauen in der afghanischen Gesellschaft

Die Datenlage zu Afghanistan ist insgesamt als äußerst prekär zu bezeichnen, da es kaum verlässliche Statistiken gibt. Besonders deutlich zeigt sich dieses Problem in der Analyse der Lage von Frauen. Gerade jene Frauen, die nur in geringem oder gar keinem Maße am öffentlichen Leben teilnehmen, sind kaum erreichbar. Deshalb besitzen Einzelfälle oft eine größere Aussagekraft als Statistiken, da sie die Vielfalt möglicher Lebensrealitäten aufzeigen.

Die eingeschränkte staatliche Macht, insbesondere in ländlichen Gebieten, führt dazu, dass die tatsächliche Rechtswirklichkeit häufig nicht den gesetzlichen Bestimmungen entspricht. Vielmehr prägen lokale Machtstrukturen sowie gesellschaftliche und religiöse Normen den Alltag. Diese unterscheiden sich stark von Region zu Region, sind meist nicht dokumentiert und daher von außen nur schwer nachvollziehbar.

Hinzu kommt eine signifikante Diskrepanz zwischen den Lebensbedingungen von Frauen in urbanen Zentren und in ländlichen Gebieten. Diese Unterschiede zeigen sich in zahlreichen Faktoren wie sozioökonomischem Status, Bildungsniveau, ethnischer Zugehörigkeit und religiösen Überzeugungen (Bamf 2024b).

Kapitel 2.6.1

Die Position von Frauen im 20. Jahrhundert

In der Situation willkürlicher Gewalt gelang es den Taliban, in weiten Teilen Afghanistans die Macht an sich zu reißen und ihre Rechtsvorstellungen durchzusetzen. Eine neue Verfassung erließen sie nicht, sondern beriefen sich auf die Scharia und formulierten einzelne Gesetze, darunter die „Verordnung bezüglich der Rechte und Pflichten von Frauen“ aus dem Jahr 1996.

Diese sah vor, dass Frauen ihr Haus nur in Begleitung eines männlichen Verwandten verlassen durften und dabei eine Chadri (Burka) zu tragen hatten. Der Besuch von Schulen sowie die Ausübung von Erwerbstätigkeiten wurde ihnen untersagt. Eine Ausnahme galt lediglich für Frauen im Gesundheitswesen, die andere Frauen behandeln durften.

Gleichzeitig untersagten die Taliban bestimmte traditionelle Praktiken, wie Zwangsehen zur Konfliktlösung (baad) oder die Verheiratung von Witwen mit dem Bruder des Verstorbenen.

Die Umsetzung ihrer Regeln lag in den Händen der „Laster- und Tugendpolizei“. Die Strafen waren drastisch: Steinigungen wegen angeblichen Ehebruchs, Auspeitschungen bei Verstößen gegen Kleidervorschriften (etwa das Sichtbarwerden eines Knöchels) oder sogar das Abhacken eines Daumens bei der Verwendung von Nagellack. Eine Berufung gegen diese Urteile war nicht vorgesehen (Bamf 2024b).

Kapitel 2.6.2

Die “goldenen” Jahre Afghanistans

Die Position von Frauen in der afghanischen Gesellschaft war über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg ein Politikum. Zum einen ging es dabei um die internationale Stellung Afghanistans: Herrscher nutzten die Frauenfrage, um sich einerseits modern und westlich orientiert zu präsentieren und dadurch Ansehen gegenüber europäischen Staaten zu gewinnen, andererseits aber auch, um sich durch die Abgrenzung von westlichen Standards Unabhängigkeit zu sichern.

Bereits im späten 19. Jahrhundert erließ König Amir Abdul Rahman (1880–1901) das erste landesweit gültige Rechts- und Gerichtssystem. Darin enthalten waren u. a. die obligatorische Registrierung von Ehen, das Verbot der Verheiratung von Mädchen vor Eintritt der Pubertät gegen ihren Willen sowie das Verbot, Witwen an den Bruder des Verstorbenen zu verheiraten.

Die erste afghanische Verfassung unter König Amanullah (1919–1929) sah ebenfalls die Pflicht zur Registrierung von Ehen vor, verbot Kinderehen und regelte die Polygamie, die nur noch mit gerichtlicher Genehmigung möglich sein sollte. Zudem betonte Amanullah die Notwendigkeit der Bildung für Frauen. Das öffentliche Auftreten seiner Frau Soraya ohne Schleier führte jedoch zu massiven Protesten und schließlich zu seinem Sturz.

Unter Nadir Shah (1929–1933) wurden Amanullahs Reformen zurückgenommen, sodass wieder islamisches Recht dominierte. Erst Zahir Shah (1933–1973) führte mit der Verfassung von 1964 erneut Reformen ein: Sie garantierte die Gleichberechtigung von Männern und Frauen sowie das aktive und passive Wahlrecht für Frauen. In den 1960er Jahren nahm die Zahl von Frauen in Verwaltung, Gerichten, Parlamenten und Universitäten deutlich zu, auch das gemeinsame Unterrichten von Männern und Frauen wurde eingeführt. In den Städten zeigte sich zunehmend eine sichtbare Präsenz von Frauen ohne Kopftuch.

Nach dem Sturz von Zahir Shah durch Daoud Khan 1973 wurden erneut Reformen umgesetzt, darunter das Verbot von Zwangsehen und Ehen zur Konfliktlösung sowie die Einführung von Scheidungsregeln. Diese Fortschritte betrafen jedoch fast ausschließlich die urbane Mittel- und Oberschicht. Für die Mehrheit der Frauen – insbesondere in ländlichen Regionen – änderte sich kaum etwas: Sie blieben von Bildung, politischer Teilhabe und den rechtlichen Neuerungen ausgeschlossen.

Die Reformen führten zu starken gesellschaftlichen Spannungen. Viele sahen darin einen gefährlichen westlichen Einfluss, der islamische Werte bedrohe. So versuchten einige Abgeordnete 1968, Frauen das Auslandsstudium zu verbieten, was zu einer der ersten öffentlichen Frauendemonstrationen führte. 1970 forderten konservative Geistliche in Kabul eine Verschleierungspflicht und das Ende säkularer Frauenbildung, stießen jedoch ebenfalls auf Protest. Selbst unter Studierenden gab es Befürworter einer Verschleierungspflicht; die Gruppe Javanan-e Musulman (später Hezb-e Islami) soll sogar Angriffe mit Säure auf liberal gekleidete Frauen verübt haben.

Mit der Machtübernahme der prosowjetischen Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) 1978 wurde das „Dekret Nr. 7“ verkündet. Es verbot Eheschließungen unter 16 Jahren und setzte einen niedrigen maximalen Brautpreis fest. Die teils gewaltsame Umsetzung gilt als einer der Auslöser für die Proteste, die schließlich zur sowjetischen Intervention 1979 führten, auch wenn sie nicht als alleinige Rechtfertigung gelten kann.

In den 1980er Jahren gab es nur geringfügige gesetzliche Anpassungen. In den von der Regierung kontrollierten Gebieten wurden Frauen verstärkt in Bildung und Arbeitsmarkt integriert. In von Krieg geprägten Regionen hingegen blieben ihre Chancen stark eingeschränkt. Frauen spielten in dieser Phase auch aktiv eine Rolle im Widerstand, am bekanntesten durch die Organisation RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan), die bis heute für Frauenrechte kämpft.

Mit Beginn des Bürgerkriegs 1992 erlebten gebildete und berufstätige Frauen einen drastischen Rückschritt. Die Übergangsregierung der Mudschahedin untersagte Frauen nahezu vollständig die Teilnahme am öffentlichen Leben. De facto herrschte jedoch keine einheitliche Rechtsordnung: Lokale Kommandeure und Räte (shura/jirga) bestimmten über Konfliktlösungen, wobei drakonische Strafen wie Steinigungen und Auspeitschungen zum Alltag gehörten (Bamf 2024b).

 
 
Kapitel 2.6.3

Die Position von Frauen in der Zeit der Islamischen Republik (2001-2021)

Im Zuge der Neuordnung des politischen Systems nach 2001 wurde in Afghanistan ein Ministerium für Frauen eingerichtet. Auch wenn dessen Einfluss begrenzt blieb, rückte das Thema Frauenrechte damit erneut in den Fokus. Die rechtliche Situation von Frauen in der Islamischen Republik Afghanistan knüpfte in vielerlei Hinsicht an die Lage vor 1992 an.

Die Verfassung proklamierte in Artikel 22 die generelle Gleichberechtigung von Männern und Frauen, doch in der Praxis blieb die Rechtslage oft unklar und wurde regional sehr unterschiedlich umgesetzt.

Eine wichtige Veränderung trat 2009 mit der Verabschiedung des „Law on Elimination of Violence against Women“ (EVAW) durch den Präsidenten ein. Obwohl Afghanistan bereits 2003 die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung gegen Frauen (CEDAW) unterzeichnet hatte, fehlte es zuvor an einer rechtlichen Grundlage zur Ahndung geschlechtsspezifischer Gewalt.
Das EVAW-Gesetz schuf erstmals einen Rahmen, um Gewalt gegen Frauen strafrechtlich zu verfolgen. Zuvor wurden Vergewaltigungen lediglich als zina – also als von der Scharia definierte sexuelle Kontakte außerhalb der Ehe – behandelt.

Die Umsetzung des Gesetzes blieb jedoch begrenzt wirksam. Da es lediglich als Dekret des Präsidenten erlassen und nie durch das Parlament bestätigt wurde, galt es nicht landesweit als verbindliches Recht. Auch nach einer Erneuerung des Dekrets im Jahr 2018 wurde es vielerorts nicht konsequent angewandt (Bamf 2024b).

Kapitel 2.6.4

Die Position von Frauen seit 2021

ChatGPT:

Kurz nach der Machtübernahme verkündete Taliban-Sprecher Zabiullah Mujahid bei einer Pressekonferenz die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Gleichzeitig betonten die Taliban jedoch, Frauenrechte ausschließlich im Rahmen der islamischen Rechtsordnung durchzusetzen. Kurz darauf wurde das Frauenministerium aufgelöst und durch das Ministerium für Gebet und Orientierung sowie zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung von Lastern (kurz: Tugendministerium) ersetzt. Dieses Ministerium hatte bereits in den Jahren 1996 bis 2001 die Verantwortung für öffentliche Auspeitschungen und Steinigungen getragen.

Seit der erneuten Machtübernahme erließen die Taliban zahlreiche Dekrete und Anweisungen, die die Rechte von Frauen massiv einschränkten. Die Bekanntmachung dieser Regeln erfolgt über verschiedene Kanäle – Reden, soziale Medien, Lautsprecherfahrzeuge und Nachrichtensendungen. Die Formulierungen sind häufig vage, Begriffe wie „Verstoß gegen die Scharia“, „entsprechend dem Islam“ oder „Hijab“ bleiben undefiniert, was zu Rechtsunsicherheit und willkürlicher Auslegung führt.

Das am 31.07.2024 veröffentlichte „Tugendgesetz“ sieht u. a. folgende Bestimmungen für Frauen vor:

  1. Pflicht zur Körperbedeckung.

  2. Pflicht zur Gesichtsbedeckung.

  3. Verbot der Stimme in der Öffentlichkeit (kein Singen, Rezitieren, lautes Sprechen).

  4. Kleidung darf nicht „dünn, kurz oder eng“ sein. Frauen müssen ihren Körper auch vor Nicht-Musliminnen und „perversen Frauen“ verbergen.

  5. Kontakt- und Blickverbot zwischen nicht verwandten Männern und Frauen.

  6. Frauen dürfen ihr Haus nur aus dringendem Grund verlassen – und dann nur verschleiert, still und in Begleitung eines mahram (direkter männlicher Verwandter).

Bereits während der Eroberung Afghanistans ordneten Taliban-Kommandanten in zahlreichen Distrikten an, dass Frauen nur in Begleitung eines mahram das Haus verlassen dürfen. Mit Dekret vom 26.12.2021 wurde Fahrern auferlegt, Frauen nur mit Hijab zu transportieren; eine klare Definition blieb jedoch aus. Außerdem wurde Frauen verboten, mehr als 72 Kilometer ohne mahram zu reisen. In der Praxis mussten Frauen bereits innerhalb von Städten Busse oder Taxis verlassen, wenn sie an Checkpoints ohne männliche Begleitung auffielen. Seit April 2022 ist es Frauen untersagt, ohne mahram zu fliegen. Am 07.05.2022 folgte die Anweisung, dass Frauen ihr Haus nach Möglichkeit gar nicht mehr verlassen sollen.

Frauen, die diese Regeln missachteten, wurden wiederholt angehalten, bedroht, verhaftet oder gefoltert. In manchen Fällen erkannten Taliban einen Begleiter nicht als mahram an. Am 05.05.2022 wurde Frauen offiziell die Ausstellung von Führerscheinen untersagt. Zuvor war es üblich gewesen, dass Frauen selbst Auto fuhren. Bereits im September 2021 hatten die Taliban ein Sportverbot für Frauen verhängt; seit Ende Dezember 2021 durften Frauen keine Sport- oder Gesundheitseinrichtungen ohne mahram besuchen. Am 10.11.2022 folgte ein generelles Verbot für den Zutritt von Frauen zu Sportstätten, Freizeitparks und öffentlichen Bädern. Zusätzlich wurde das Zeigen von Frauenbildern in der Öffentlichkeit verboten.

Neben nationalen Vorschriften erließen auch Provinzabteilungen des Tugendministeriums eigene Regelungen. Manche Dekrete richteten sich an die internationale Gemeinschaft, indem sie nur formal Frauenrechte vorsahen, ohne praktische Wirkung zu entfalten.

So etwa das Dekret vom 03.12.2021, das Frauenrechte im Bereich der Ehe regelte. Es stellte fest:

Frauen, auch Witwen, dürfen nicht gegen ihren Willen verheiratet werden.

Die Ehe von Minderjährigen (nicht klar definiert) ist verboten.

Witwen besitzen ein Erbrecht.

Polygame Männer müssen ihre Frauen gleich behandeln.

Kritisiert wird an diesem Dekret, dass es keinen Bezug zu Bildung, Arbeit oder politischer und gesellschaftlicher Teilhabe von Frauen herstellt. Zudem wird es in der Praxis nicht angewandt (Bamf 2024b).